Reportage aus Visit 1/2025, dem Magazin der Pro Senectute Kanton Zürich
"Es braucht soziale Kontakte, um gesund zu altern"
Führt man Jung und Alt zusammen, entstehen veritable Win-win-Situationen. Ein Beispiel ist das Projekt "Generationen im Klassenzimmer". Ein Besuch der Primarstufe Obfelden (ZH). Ein Schultag wie jeder andere. Vor der Wandtafel sind die Zweitklässlerinnen und Zweitklässler im Kreis versammelt. Andrea Ruch, ihre Lehrerin, erzählt eine Geschichte. Diese handelt von einem Mädchen, das an der Uhr dreht und dreht und dreht und - schwups - plötzlich erwachsen ist.
(Aus Datenschutzgründen konnten die Originalbilder der Reportage nicht verwendet werden; wir arbeiten an dieser Stelle deshalb mit Agenturbildern.)
“Das Mädchen sass da und drehte bloss. Gegen Abend war es erwachsen und gross”, liest Ruch die Geschichte aus der Feder von Margret Rettich.
Brigitte Baur (78) und Robi Gut (80) schmunzeln. Jeden Mittwoch bzw. jeden Freitag ist jemand von ihnen mit im Unterricht und unterstützt die Klasse. “Sie helfen zum Beispiel dann, wenn ich nicht weiss, wie ich etwas schreibe”, so Nala (8). “Oder beim Schlittschuhlaufen, da war Frau Baur auch mit dabei”, ist von Noemi (7) zu erfahren.
Tatsächlich war Brigitte Baur beim Ausflug auf die Eisbahn kürzlich besonders gefragt. “Mal ging es darum, die Schlittschuhe zu binden, mal den Weg auf die Toiletten zu finden oder für den zu heissen Tee aus der Thermosflasche eine Lösung zu finden”, erzählt Brigitte Baur während der Pause im Lehrerzimmer. Hier herrscht geschäftiges Treiben, man bedient sich an der Kaffeemaschine, wechselt ein Wort, nimmt sich ein Schokoladetäfelchen vom grossen Tisch. “Es ist schön, wie wir auch im Lehrerzimmer gut aufgenommen sind”, so Brigitte Baur. Baur und Robi Gut sind nicht die einzigen Pensionierten im Schulhaus; das Modell hat hier Tradition. “Ich habe bereits vor 20 Jahren eine ältere Person im Unterricht gehabt, die zehn Jahre geblieben ist”, erinnert sich Andrea Ruch.
Rückkehr ins Schulzimmer
Robi Gut kennt Frau Ruch von früher. Sie haben zusammen in der gleichen Schulanlage gearbeitet, wo Robert Gut als Oberstufenlehrer unterrichtete. Vor eineinhalb Jahren - mehr als zehn Jahre nach seiner Pensionierung - zog es ihn wieder ins Schulzimmer. Diesmal aber auf der Unterstufe. “Dass wir uns kannten, war gar nicht ausschlaggebend, viel wichtiger war der Fakt, dass ich eine sinnvolle Tätigkeit für mich suchte”. Denn: Es brauche soziale Kontakte, um gesund zu altern. “Es tut mir gut, dass ich Verbindlichkeiten eingehe, dass ich um 8 Uhr jeden Freitag erwartet werde und dass ich mich mit diesem Engagement auch ein bisschen herausfordere”. Nur zu Hause herumzusitzen, tue nicht gut. Niemandem.
"Die heutigen älteren Menschen wollen nicht
Rückzug, wie man oft annimmt,
sondern in erster Linie Partizipation."
Dürfen statt müssen
Brigitte Baur ist seit vier Jahren Seniorin im Schulzimmer. Sie unterrichtete früher Muki-Turnen und die Arbeit mit Kindern hatte sie immer sehr gemocht. Im Schulzimmer bei Andrea Ruch ist sie sich ihrer Rolle bewusst, auch im Gespräch mit Eltern, “Wir verhalten uns diskret und verweisen die Eltern, aber auch die Schülerinnen und Schüler je nach Thema die Klassenlehrerin”. Auch Robi Gut ist froh, dass er hier sein darf, nicht mehr muss. “Wenn ich mal einen Termin habe, dann melde ich mich rechtzeitig ab. Auch mit den Ferien bin ich frei. Den jungen ”Spirit", den Kinder einem vermitteln, schätzt er. "Wenn ich jeweils vom Schultag nach Hause komme, fällt meiner Frau auf, dass ich ganz aufgestellt bin.
Wertvolle Unterstützung
Und Schwierigkeiten? “Ich musste ein Hörgerät kaufen”, erzählt Brigitte Baur, “ich habe die Kinderstimmen nicht gut gehört”. Robi Gut ging es genauso. Eines zu tragen, verbessere inzwischen seine Lebensqualität deutlich. “Und einmal, da habe ich am Sporttag mit den Kindern seilgeschwungen”, erinnert sich Brigitte Baur. “Ich wollte ihnen zeigen, wie sie heraushüpfen können, denn das konnte ich immer sehr gut. Da lag ich prompt wie ein Käfer auf dem Rücken”. Zum Glück sei nichts weiter passiert.
Worin sich Brigitte Baur und Robi Gut ebenfalls einig sind: Als Kind hätten beide auch schlechte Erfahrungen mit der Schule gemacht. «Dass man sich in einem Schulzimmer frei bewegen darf – unvorstellbar!», erinnert sich Brigitte Baur. «Dadurch, dass ich mich nun wieder ins Schulzimmer begeben habe, muss ich nicht bei den negativen Erinnerungen bleiben. Es ist schön, zu sehen, wie Schule heute ganz anders funktioniert, als zu unserer Zeit.» Dass Andrea Ruch Unterstützung hat – von Seniorinnen und Senioren, aber auch von einer schulischen Heilpädagogin, die an diesem Morgen ausnahmsweise ebenfalls anwesend ist, erleichtere den Unterricht mit dem heute aktuellen inklusiven Ansatz enorm, so die erfahrene Primarlehrerin. «Oft kann ich in einer Kleingruppe etwas besprechen oder erklären, während Brigitte oder Robi mit den anderen weiterarbeiten.» An diesem Morgen üben sie die Uhrzeiten lesen. Eine kleine Gruppe versucht, die Zeitangabe auf der Uhr richtig einzustellen, während eine andere Gruppe Sätze dazu schreibt. Inzwischen sei ihre eigene Pensionierung nicht mehr allzu weit entfernt und sie stelle sich manchmal vor, wie es wäre, selbst auch als Seniorin im Klassenzimmer tätig zu sein.
Partizipation statt Isolation
Dass alle davon profitieren, wenn die verschiedenen Generationen zusammenspannen, scheint nachvollziehbar. «Es gibt gute Studien, die das belegen», weiss Lukas Zahner. Als ehemaliger Professor und Studienleiter am Departement für Sport, Bewegung und Gesundheit der Universität Basel kennt er die Forschungsliteratur zum intergenerativen Ansatz bestens, denn diesen nutzt er für die Bewegungsförderung bei älteren Menschen und bei Kindern. Mit der Stiftung Hopp-la führt er das Interesse an diesen beiden Gruppen zusammen. «Beim intergenerativen Ansatz könnte man von Superpille reden, die darüber hinaus noch kostengünstig ist.» Man müsste ihn viel stärker ins Zentrum stellen. «Man weiss, wie wichtig der soziale Kontext beim älteren Menschen für die Lebensqualität, aber auch für die Lebenserwartung ist. Einsamkeit ist gleich schlimm wie rauchen und trinken gleichzeitig.» Zudem seien klassische Grosselternsituationen nicht mehr ohne weiteres gegeben. «Viele Kinder verbringen heutzutage nur wenig Zeit mit ihren Grosseltern, weil diese oft weit entfernt leben», so Zahner. Gerade für die Entwicklung dieser Kinder sei der Austausch mit der älteren Generation wichtig: Er beeinflusst die soziale und emotionale Entwicklung positiv und fördert das gegenseitige Verständnis. Und nicht zuletzt ist da der demografische Wandel, der nach neuen gesellschaftlichen Ansätzen ruft:
«Die Generation, die jetzt die grösste ist, muss integriert werden», so Zahner.
Wenn das gelinge, komme es zu totalen Win-Win-Situationen. So sei die Tatsache, dass ein öffentlicher Spielplatz erneuert werden müsse, oft die Gelegenheit, ihn generationengerecht zu gestalten. «Das Wissen, das wir hierzu erarbeitet haben, stellen wir von Hopp-la zur Verfügung und begleiten entsprechende Vorhaben.» Klar sei es einfacher, eine Schaukel bloss zu ersetzen, ohne sich weitere Gedanken zu machen. Und darin liege auch die grösste Schwierigkeit: «Sind sich die Menschen, die in den entscheidenden Funktionen tätig sind, genügend bewusst über die doppelte Profit-Situation, die entstehe, wenn Jung und Alt sich begegnen.» Die Frage der Gestaltung von zukünftigem Lebensraum macht nicht beim öffentlichen Raum halt, sondern geht weiter: «Eine Gemeinde muss sich vor einem Neubau einer Seniorenresidenz unbedingt fragen, wie sind die Bedürfnisse von Senior:innen. Was organisiert man wie, damit es einem älteren Menschen dort wohl ist.» Heute berechne man oft Anzahl Plätze und sehe gar nicht, dass dort einmal Menschen leben würden. Grundsätzlich könne man festhalten: «Die heutigen älteren Menschen wollen nicht unbedingt Rückzug, wie man das oft annimmt, sondern in erster Linie Partizipation.»
Generationen im Dialog, eine Übersicht
Und sollten Schwierigkeiten im Miteinander entstehen, finden sich Hilfestellungen für die intergenerative Zusammenarbeit beispielsweise auf der Website von «Intergeneration». Die Plattform pflegt schweizweit das Netzwerk und den Austausch zu Generationenthemen. Trägerin ist die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft SGG mit Sitz in Zürich. «Wir bieten Fachleuten, Organisationen und interessierten Privatpersonen eine Anlaufstelle, um Wissen zu teilen», so die Co-Programmleiterin Monika Blau. Ein grosser Service der Plattform: Sie listet an die 400 Projekte in der ganzen Schweiz, die sich dem Generationendialog verschrieben haben. Das Konzept «Generationen im Klassenzimmer» etwa wird an über 90 Schulen schweizweit bereits erfolgreich gelebt. In der Stadt Zürich heisst das Projekt «Seniorinnen und Senioren in der Schule». Bei Interesse steht die Pro Senectute, meist in der Rolle als Vermittlerin, unterstützend zur Seite. Vorkenntnisse sind keine notwendig.